Erst durch Kultur wird eine Gemeinde zur Stadt
Dr. Peter Hellmig, Weingarten
// Wer glaubt, es bräuchte Facebook und Co. für die rasante Ausbreitung einer Bewegung, der irrt. Denn das funktionierte auch schon in der Mitte des 13. Jahrhunderts: Franz von Assisi starb 1226, die erste Biografie erschien 1228, im gleichen Jahr wurde er heilig gesprochen. Bereits 15 Jahre später hatten seine Ordensbrüder und -schwestern überall in Mittel- und Nordeuropa in seinem Namen Klöster gegründet. So auch in Arnstadt.
Klöster waren ursprünglich Einsiedeleien. Die Franziskaner, auch Barfüsser genannt, siedelten und wirkten jedoch grundsätzlich mitten im gesellschaftlichen Raum. Jacques Le Goff, der große französische Mediävist, vertritt die Ansicht, dass die Niederlassung eines Bettelorden häufig der Anstoß für die urbane Entwicklung der mittelalterlichen, der europäischen Stadt war. Umgekehrt war aber auch ein bereits entwickeltes Gemeinwesen die Voraussetzung für eine solche Ansiedlung.
Die Barfüsser- heute Oberkirche als Mittelpunkt der städtischen Entwicklung
Um 1246 begannen die Franziskaner in Arnstadt mit dem Bau der frühgotischen Oberkirche und dem angeschlossenen Konvent. Im Jahr 1266, nur 20 Jahre später, erlangte Arnstadt von der Abtei Hersfeld das Stadtrecht und zunehmende Autonomie.
Im Jahr 2016 sind in Arnstadt 750 Jahre Stadtgeschichte im Le Goff’schen Sinn zu erleben: Als eine allgegenwärtige „Histoire générale“, die die Verknüpfung von gesellschaftlichen Entwicklungen und Mentalitäten zu Geografie, Ökonomie und Religion aufzeigt und erzählt.
Verkehrsgünstig 20 Kilometer südlich von Erfurt gelegen, verdankt Arnstadt seine Entwicklung zur Stadt zwei großen Handelsstraßen – der Via Regia in Ost-West und der Kupferstraße bzw. dem Frankenweg in Nord-Süd-Richtung. Noch heute bestimmen die Topografie der Stadt lichte Plätze mit so sprechenden Namen, wie Holzmarkt oder Ledermarkt. Auch Waid, der rare und kostspielige blaue Farbstoff, Hopfen, Salz, Töpferwaren, Tuche und Wolle bestimmten das Angebot. Arnstadt war Schnittpunkt des regionalen Handels, aber auch über Nürnberg und Venedig an den Fernhandel angeschlossen.
Wie sah diese weite Welt, an deren Handel auch Arnstadt beteiligt war, im Jahr 1266 aus? In diesem Jahr trafen beispielsweise Vater und Onkel des Venezianers Marco Polo auf ihrer ersten großen Asienreise beim Mongolenherrscher Kambaluk in Peking ein, 1271 brachen mit ihrem Neffe zu einer weiteren Reise auf, die dieser später in „Il milione“ für die Nachwelt festhielt. Das Porzellan, das im 18. Jahrhundert an mitteldeutschen Höfen, auch in Arnstadt, eine große Rolle spielen sollte, war längst in China erfunden, auch der Buchdruck mit beweglichen Lettern.
Papier und der magnetische Kompass waren in China schon Jahrhunderte bekannt, in Europa setzte sich beides gerade durch. Der Stauferköng und -kaiser Friedrich II. war seit 1250 tot, von 39 Regierungsjahren hielt er sich 29 Jahre in Süditalien auf. Er versammelte an seinem Hof christliche, muslimische und jüdische Gelehrte. Philosophie, Naturwissenschaften, insbesondere die Mathematik und Medizin, alles Bereiche, in denen die arabischen Wissenschaftler führend waren, wurden von Friedrich gefördert. Sein Hof war eine Drehscheibe des Wissens- und Kulturtransfers. Das hatte auch ganz praktische Konsequenzen, so erließ Friedrich Gesetze gegen Luft- und Wasserverschmutzungen sowie eine Approbationsordnung für Ärzte und Apotheker.
Auf Friedrich II. folgte ein sogenanntes Interregnum, eine Phase schwacher Könige. Erst der 1271 gewählte König Rudolf von Habsburg nahm seine Rolle gegenüber den Fürsten des Römischen Reiches Deutscher Nation wieder machtvoll ein.
Schutzbedürftig
Die Franziskaner unterhielten im Süden Arnstadts ausgedehnte und bis heute erhaltene Nutzgärten, an die sich ab 1330 eine Stadtmauer anschloss: Diese teilweise bis heute zu erlebende Stadtmauer besteht aus einem zweifachen Mauerring. Im 15. Jahrhundert erfolgte noch einmal eine erhebliche Verstärkung des Mauerrings und der Stadttore, weil man sich von den Hussiten bedroht fühlte. Vorreformatorische Kriege leiteten eine Zeitenwende ein, die im Jahr 1538 im Rahmen der Reformation mit der Vertreibung der Franziskaner aus der Oberkirche endete. Danach stand die Kirche bis zu einem großen Stadtbrand 1581 leer.
25 Jahre aufwendige Sanierung mit Unterstützung der Städtebauförderung
Dieser Stadtbrand ist der Grund, warum sich Arnstadt dem Betrachter vorwiegend als Renaissance- und Barockensemble präsentiert. Das Stadtbild prägt der Reichtum selbstbewusster Ackerbürger, vielfach im Ensemble erhalten und von den Eigentümern mit Unterstützung der Städtebauförderung in den letzten 25 Jahren aufwendig und sehenswert saniert.
Während das Renaissance-Wasserschloss Neideck mit dem Aussterben der Arnstädter Linie der Schwarzburger bis auf den Turm und den ausgedehnten Schlossgarten niedergerissen und geschleift wurde, bestimmt das Renaissance-Rathaus den zentralen Markt. Ihm gegenüber steht das Denkmal des jungen Johann Sebastian Bach, der von 1703 bis 1707 die Organistenstelle an der nach dem Stadtbrand wiedererstandenen Neuen Kirche, heute Bach-Kirche, inne hatte. Die von ihm gespielte Wender-Orgel ist seit 2000 rekonstruiert und restauriert in Gottesdienst, Orgelführungen und hochkarätigen Konzerten zu hören.
Ältester Ort Mitteldeutschlands?
Im Rahmen des Stadtrechtsjubiläums gab und gibt es zahlreiche Gelegenheiten sich mit „der Stadtgeschichte, ihren Legenden und Mythen“, wie es Dr. Olaf Schneider, Universitätsbibliothek Gießen, im Rahmen eines Kolloquiums am 23. April 2016 im Rathaussaal, nannte, zu beschäftigen und den Blick auf Arstadt zu schärfen. Der Verein Stadtgeschichte e.V. hatte sieben Wissenschaftler eingeladen, darunter auch Dr. Michael Fleck aus Bad Hersfeld, er sich mit den unterschiedlichsten Aspekten der Stadtwerdung Arnstadts im Verhältnis zur Abtei Hersfeld auseinander setzte.
Auf Grund einer Schenkungsurkunde von 704 – der Thüringer Heden II. († 717) schenkte die curtis arnistati dem Utrechter Missionsbischof und ersten Abt des Klosters Willibrord († 739) – nennt sich Arnstadt „Ältester Ort Mitteldeutschlands“. Doch Olaf Schneider führte aus, dass von dieser Urkunde kein zeitgenössisches oder originales Dokument erhalten ist, sondern nur eine fast 500 Jahre später geschriebene Kopie im Liber aureus, dem goldenen Buch der Abtei Echternach, das heute in der Forschungsbibliothek Gotha archiviert ist.
Interessant ist, warum knapp 500 Jahre später alte Urkunden kopiert oder auch neu geschrieben wurden: Um nicht unter den Einfluß der Trierer Erzbischöfe zu geraten und um den Status einer unabhängigen Reichsabtei zu erhalten, wurde die Geschichte des Klosters Echternach im ausgehenden 12. Jahrhundert neu konstruiert und mit einem Gründungsmythos versehen. Im Rahmen dieses Konstrukt taucht auch die Arnstädter Urkunde auf. Inwiefern diese auf ein originales Dokument zurückgeht oder Teil dieser Neukonstruktion ist, ist nachträglich nicht zu klären. Olaf Schneider schätzt sie in Form und Inhalt als denkbares Originaldokument ein, während er die zwei weiteren Arnstadt betreffenden Urkunden, darunter das Testament des Willibrord, eher für Fälschungen hält.
Hier wird deutlich, dass es in der frühen Geschichte der Stadt und im Kontext „ältester Ort“ eher den Blick verstellt, wenn man sich zu sehr auf einzelne Daten zu bezieht. Hansjürgen-Müllerott, Museologe, führte auf dem Kolloquium noch einmal die Arnstädter Frühgeschichte aus und zeigte, dass die Anfänge der Stadt, die frühen Ansiedlungen bis auf die Kelten zurückgehen. Das ist noch einmal ein ganz anderer Zeitraum als bis 704 zurück.
Professor Dr. Ernst Erich Metzner, Em. Universität Frankfurt, stellte den Zusammenhang des Gehöfts Arnestati mit den thüringischen, in Würzburg ansässigen, Herzögen mit dem Leitnamen Heden her und berichtete von jüngeren Forschungsergebnissen, die eine Ausdehnung des Thüringischen Reiches bis in die Niederlande und Teile Burgunds als wahrscheinlich erscheinen lassen. Hier zeigen sich interessante überregionale Ansätze die Willibrod’sche Missionsgeschichte, die Geschicjte der Abtei Echternach und die Geschichte der thüringischen Herzöge mit Gewinn für die Stadtgeschichte zu vertiefen.
Weit und breit kein „Arn(o)“
Flankiert wurde das Kolloquium durch eine informative Ausstellung des Vereins „Stadtgeschichte e.V.“, die erst im Rathaus und dann im Landratsamt zu sehen war. Auch hier wurde klar, dass manches was man für „Geschichte“ hält, ein Mythos ist: Die unzähligen Orte mit „Arn“ (Arnsberg, Arnheim, Arnstein, Arnstorf, Arnschwang etc.) im Namen haben eine ethymologisch sehr einfache Erklärung und wenn man sich die Topografie dieser Orte ansieht auch sehr einleuchtende Erklärung. Im „Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart“ von Johann Christoph Adelung von 1811 steht es noch ganz selbstverständlich: ar, har aber auch hor und ur stehen für hoch, arn ist demnach eine Bezeichnung für einen Ort, der am oder auf dem Hügel/Berg gelegen ist.
Ausstellung im Schlossmuseum als Höhepunkt des Stadtrechtsjubiläums
Vom 16. Juli bis 23. Oktober 2016 haben die Arnstädter und ihre Gäste jetzt im Schlossmuseum zu Arnstadt, in einer Sonderausstellung zum Stadtrechtsjubiläum, die Möglichkeit der Stadtgeschichte ganz sinnlich nachzuspüren. Diese Ausstellung begibt sich auf den Weg zur Stadt von der Erstbesiedlung ab der Jungsteinzeit bis ins Mittelalter. Wertvolle Exponate aus der Zeit der Ur- und Frühgeschichte bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts sind im Original oder als Kopie zu sehen. Dabei handelt es sich überwiegend um Bestände des Schlossmuseums, aber auch um Leihgaben der Archive und Museen Rudolstadt, Gotha und Marbach.
Den Impulsvortrag zur Vernissage hielt Professor Dr. Hiram Kümper, Universität Mannheim. Die Kernbotschaft lautete: die Urkunde von 1266 verlieh der Stadt gar keine konkreten Markt-, Münz- oder sonstige Rechte, da Arnstadt zu dieser Zeit bereits eine veritable Stadt war.
Zu deuten ist der Text des Dokuments des Abts Heinrich von 1266 laut Prof. Kümper eher als der Versuch des aufkommenden Bürgertums, sich von der einstmals mächtigen Abtei mit Brief und Siegel bestätigen zu lassen, dass man autark handeln dürfe – ein klar gegen die Kefernburger Grafen und deren Herrschaftanspruch gerichteter Akt selbstbewusster Kaufleute, Zünfte und Bürger.
Denn Karl der Große war bereits über 400 Jahre tot, aber der Abt von Hersfeld berief sich auf ihn und die der Abtei verliehenen Rechte, welche allerdings besondere Rechte einer Abtei umfasste, mit der eine Stadt wenig anfangen konnte. Diese wurden nun, ohne irgendwie präzisiert zu werden, an die Stadt Arnstadt weitergereicht. Nach Prof. Kümper eher ein symbolischer Akt einer Abtei, deren Einfluß damals bereits stark am schwinden war – erstellt auf Antrag Arnstädter Gesandter.
Die Ausstellung, noch bis zum 23. Oktober 2016, ist sehens- und vor allem auch lesenswert, da die Texttafeln knapp, profund und klar ein Bild zeichnen von dem, was wir heute von der frühen Geschichte der Stadt wissen. Geöffnet Di., Mi., Do., Fr., Sa. von 09:30 – 16:30 Uhr
Eine rundum interessante Sache. und es ist immer wieder gut kritisch gerade historische Wissenschaften zu hinterfragen. Aber Kritik muss auch bei den „neuen“ Erkenntnissen erlaubt sein. Die neue alte Herleitung des Names halte ich für mehr als fragwürdig, da sich dabei einer Methodik bedient wird, die ich für ebenso fragwürdig erachte – nämlich die Heranziehung von Ortsnamen aus Räumen mit anders gearteten Ortsbenennungstraditionen. Gleichzeitig wird ein Fakt außer acht gelassen – die nunmehr sicher belegte Tradition im Kernland des Thüringer Reiches die Orte eben nach einer Person in Kombination mit Ablegern von Stadt und Leben zu bilden. Es mag ja mehr als nur wahrscheinlich sein, dass viele der genannten Arn-Beispiele auf eine topographische Positionsangabe zurück gehen. Warum sollte aber gerade im Falle von Arnstadt, das umgeben ist von „klassischen“ thüringischen Namen plötzlich auf einen topographischen Namen zurückgegriffen werden. Zumal in den Beispielen ja nicht nur nicht-thüringische sondern sogar nichtgermanische Name Verwendung finden. Eine nette Theorie das ganze, und sicher diskussions- und damit forschungsfördernd, aber eben auch nicht mehr als eine Theorie, gegen die es auch noch genug fundierte Kontraargumente gibt.