Johann Sebastian Bach, interpretiert von Bernd Göbel 1985, gesehen in Dornheim/Thüringen (links), und von Elias Gottlob Haussmann im Jahre 1748 (Quelle: wikipedia/Ausschnitt) //
Bach ist wie ein Buch oder ein Fluß, der Anfang einer großen Tradition der gesamten westlichen Welt.
Und genau hier hat alles begonnen. Es ist wunderbar, zu dieser Quelle zurückzukehren.
John Butt auf youtube anlässlich eines Konzertes der Thüringer Bachwochen in der Georgenkirche in Eisenach 2014
Arnstadt bezeichnet sich selbst als Bachstadt. Johann Sebastian Bach war ein Musiker, der vor rund 300 Jahren als junger Mann vier Jahre in dieser Stadt lebte, für die Gottesdienste die Orgel spielte und notfalls auch mal den Degen zog. Diese Geschichten sind bekannt. Weniger bekannt ist die Antwort auf die Frage: Was ist an diesem Bach eigentlich so besonders, dass Menschen aus den ganzen Welt nach Arnstadt und Thüringen kommen, um seine Kirchen zu besuchen, seine Musik zu hören und ihm, überlebensgroß auf dem Arnstädter Markt sitzend, die Referenz zu erweisen?
Um das Phänomen Joh:Seb:Bach – wie er seinen Namen selbst gerne abkürzte – zu verstehen, ist es hilfreich sich zu vergegenwärtigen, was es vor 300 Jahren, in einer Zeit, die wir heute als „Barock“ bezeichnen, bedeutete, als Musiker sein Brot zu verdienen.
Es hieß, dienender Untertan einer Obrigkeit zu sein, welche entweder die Kirche oder der Adel war. Bach hatte sein Leben lang beiden gedient – in Weimar und in Köthen war er im Dienste des Herzogs August Ernst bzw des Fürsten Leopold von Anhalt-Köthen, in Arnstadt, Mühlhausen und Leipzig hatte er für die Kirchgemeinden die Gottesdienste musikalisch zu gestalten. Es sollte noch fast 100 Jahre dauern, bis sich Musiker erstmalig von dieser Abhängigkeit befreien und sich und ihre Kompositionen auch „vermarkten“ konnten. Bach hatte dergleichen nicht gekannt. Er diente Hof und Kirche.
Zugleich war dies für Bach selbstverständlich und kein Problem, solange er als Musiker geachtet war und das Gehalt stimmte. Gerne wäre er auch Hofkomponist am sächsischen Hof unter dem katholischen Kurfürsten August III. geworden. Bach war vor allem eines: Musiker mit Leib und Seele. Viele seiner musikalischen Ideen und Melodien finden sich in den weltlichen Stücken und Konzerten, seiner Fest- und Hochzeitsmusik ebenso wie in seiner geistigen Musik.
Warum ist dies wichtig? Liest man die Titel oder Texte insbesondere seiner geistigen Kompositionen, so sind diese oft von einem so unmittelbaren und innigen Glauben getragen, das man sie heute nur schwer nachvollziehen kann. Von „Komm süßer Tod“ (BWV 478) bis zu „Mein Herze schwimmt im Blut“ (BWV 199) ist in dieser barocken Kirchenmusik viel von Todessehnsucht und der Nichtigkeit des weltlichen Lebens die Rede, und von Jesus Christus als der Lösung allen Leids. Man muss nicht Atheist sein, um diese Libretti heute als etwas zu jenseitig empfinden. Man muss aber ebenso wenig tiefgläubiger Christ sein, um sich für diese hinreissende Musik zu begeistern und sich von ihr – durchaus samt der Libretti – anrühren zu lassen.
Wie kein andere Komponist vor und nach ihm verstand es Bach, eine Musik zu schreiben, die sich der Erwartung des Zuhörers stets aufs Neue widersetzt und die somit überraschend und spannend bleibt, und die auch die kompliziertesten musikalischen Konstruktionen immer wieder einer einfachen und ergreifenden Auflösung zuführt. Kein Musiker vor und nach ihm hat es so gut verstanden, mehrere Stimmen und Instrumente übereinander zu legen und gleichzeitig erklingen zu lassen. Und kein Musiker vor und nach ihm hat es so gut verstanden, zwei sich scheinbar widersprechende Empfindungen in seiner Musik zu vereinen: Trauer und Besinnung einerseits, und Trost und Heiterkeit andrerseits.
Ich möchte dafür ein Beispiel aufführen, ausgewählt nach meinen persönlichen Vorlieben. Hören Sie die erste Arie aus der wunderschönen Kantate BWV (Bachwerke-Verzeichnis) 82 „Ich habe genug“ von 1727 in einer Interpretation von Joshua Rifkin und dem Tenor Jan Opalach von 1989:
Ein zweites kommt bei Bach hinzu. Wie alle großen Künstler dieser Welt erhob er sich über Moden und Vorlieben seiner Zeitgenossen, Auftraggeber und Kollegen und versuchte die Möglichkeiten seines künstlerischen Materials, den 12 Noten und ihren verschiedenen Tonarten, auszureizen. Dabei entstand auch Musik, die manchmal für seine Zeitgenossen schwer verdaulich war. Die Beschwerden darüber sind auch in Arnstadt überliefert, wenn es aus einer Befragung Bachs vom Februar 1706 heißt, er habe „viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet“.
Bach hat viele Stücke geschrieben, die sich mit den Grenzen des musikalisch Machbaren befassten und die in diesem Sinne über das, was wir heute als „barocke“ oder „klassische“ Musik bezeichnen, hinausweisen. Wie der Dichter William Shakespeare in seinen Dramen oder der Maler Leonardo da Vinci in seinen Bildern hat Johann Sebastian Bach Kunst geschaffen, die jenseits aller Zeitgeschmäcker vollendet ist und somit immer aktuell bleiben wird.
Diese Zeitlose, Vorausdenkende und Moderne an Bach blitzt meines Erachtens in seinen Instrumentalstücken für einzelne Instrumente besonders deutlich auf, wie in den Partiten für Violine Solo oder den Cellosuiten, von denen der berühmte Cellist Pablo Casals sagte:
„Sie sind die Quintessenz von Bachs Schaffen, und Bach selbst ist die Quintessenz aller Musik“
Ich habe das Präludium der 5. Cellosuite BWV 1011 als Beispiel ausgesucht, gespielt von Mstislav Rostropowitsch 1991 in der Basilika Sainte Madeleine in Vézelay, Frankreich:
Für viele in Arnstadt ist Bach ein Musiker, der lange tot ist, von dem wir nicht viel wissen – nicht einmal, wo er eigentlich gelebt hat während seines vierjährigen Aufenthaltes –, der heute als junger Kerl auf dem Markt sitzt und dafür taugt, kostümierte Stadtführungen unterhaltsam zu gestalten. Groß ist der Andrang der Arnstädter nicht, wenn die Thüringer Bachwochen in der Bachkirche gastieren, und das ist auch nicht schlimm. Jeder hört die Musik, die er am liebsten mag.
Was wir in Arnstadt aber verstehen müssen, ist, dass Johann Sebastian Bach für Millionen von Musikern und Musikliebhabern rund um den Globus der Mittelpunkt ihrer musikalischen Welt ist. 40 Millionen Menschen spielen alleine in China Klavier, und sie alle lernen Bachs Musik kennen. Das Verhältnis dieser Musikschaffenden auf der ganzen Welt zu Bach, Mozart oder Beethoven kann man nur mit einem Wort fassen: allumfassende Verehrung. Für einen koreanischen oder kalifornischen Musikfreund ist es deshalb ein geradezu überwältigendes sinnliches oder gar spirituelles Erlebnis, in Eisenach neben Bachs Taufstein spielen oder in Arnstadt in „seiner“ Kirche die Matthäus-Passion erleben zu dürfen. Bach-Orte sind Orte der Sehnsucht, und diese werden in einer globalisierten Welt der Gleichmacherei immer wertvoller.
Aus wirtschaftlicher Sicht betrachtet ist Johann Sebastian Bach eine touristische Marke an der Spitze der Champions League. Man muss zu Bach nichts erklären, eben so wenig wie man erklären muss, wer oder was Bayern München ist. Es reichen diese vier Buchstaben, und die ganze Welt weiß wovon man spricht. Mehr geht nicht.
Dieses Potential an einem kulturnahen, kultiviertem, individuellen und immer auch mit dem nötigen Kleingeld ausgestattetem Tourismus nützt Arnstadt bis heute nicht ausreichend aus. Genauso wenig wie die anderen Bachstädte. Ganz Thüringen scheint noch nicht begriffen zu haben, welche Aufmerksamkeit es durch eine konzertierte und einheitliche Präsentation seiner verschiedenen Bach-Stätten, Veranstaltungen und Konzerte erzielen könnte – zum Nutzen aller.
Man muss sich ja nicht unbedingt Salzburg zum Vorbild nehmen, das mit der Vermarktung Mozarts Milliardenumsätze macht und jährlich 6,5 Millionen Besucher in der Stadt zählt. Es reicht ja vielleicht schon, wenn man zur Kenntnis nimmt, was die Menschen auch ausserhalb Thüringens bewegt und wie viel Einmaliges es innerhalb Thüringens gibt, was man ihnen bieten kann.
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postscriptum:
Arnstadt kann sich durchaus im doppelten Sinne als Bachstadt begreifen, ist es doch auch die Stadt der Familie Bach, zum Beispiel von Heinrich Bach, dem Großonkels von Johann Sebastian, und von dessen Söhnen Johann Christoph und Johann Michael Bach. Was für herausragende Musiker auch diese Mitglieder der weitverzweigten Musikerfamilie Bach waren, zeigt ein Mitschnitt aus einer Probe mit der Sopranistin Kirsten Witmer und dem Bach Ensemble unter der Leitung von Joshua Rifkin. Hören Sie „Ach wie sehnlich wart ich der Zeit“ von Johann Michael Bach (1648-1694) vom August 2014 in der Oberkirche zu Arnstadt: